Schon in früher Jugend entwickelte er die
außergewöhnliche Fähigkeit, komplexe mathematische Aufgaben über geometrische
Visualisierung zu lösen. Das alles geschah in bewegten Zeiten: Noch vor dem Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs emigrierte Mandelbrot mit seiner litauisch-jüdischen Familie 1936
nach Paris. Diese Erlebnisse prägten auch seine mathematische Gabe, die „ich auf meiner
Flucht bei der Betrachtung von Pflanzen und Bäumen entwickelte“. Die Aufnahmeprüfung zur
École Polytechnique in Paris bestand er 1944 mit Bravour. „Das Problem, das wir als
Aufgabe erhielten, ließ sich ganz einfach lösen, wenn man es nicht in kartesischen,
sondern in sphärischen Koordinaten fasste. Aber ich war der einzige Kandidat in ganz
Frankreich, der das damals gesehen hat.“
Ende der 1950er Jahre begann Mandelbrot seine Karriere in den USA in der
Forschungsabteilung des Thomas J. Watson Research Center bei IBM. Seine insgesamt
35-jährige Tätigkeit für den Computerkonzern schilderte der spätere
Mathematikprofessor rückblickend als „Goldenes Zeitalter“: „Ich fand Erfüllung in
scheinbar weit auseinanderliegenden Themen, die keinem üblichen Muster folgten und
daher weithin als bizarr angesehen wurden.“
Nicht überall wurde er verstanden. So galt Benoît B. Mandelbrot zeit seines Lebens
in der Welt der Mathematik als Exot. Er blieb ein „Maverick“ – ein Einzelgänger,
Querdenker und Nonkonformist. Formale Sätze und Beweise spielten für ihn nur eine
untergeordnete Rolle.
Die Mandelbrot-Menge
Schon als Heranwachsender hatte Mandelbrot den deutschen Naturphilosophen,
Mathematiker, Astronomen und Astrologen Johannes Kepler bewundert. Kepler hatte sein
interdisziplinäres Wissen genutzt und drei Gesetze der Planetenbewegung entwickelt.
Benoît B. Mandelbrots Jugendtraum war es, etwas von ähnlich weitreichender Bedeutung
zu entdecken. Und das gelang ihm auch mit der Entwicklung der nach ihm benannten
Mandelbrot-Menge. Diese stellt ein Muster dar, um die in der Natur immer
wiederkehrenden Unebenheiten als fraktale Mengen zu berechnen und zu visualisieren.
Dies geschah 1978 mit der als Apfelmännchen berühmt gewordenen Computeranimation.
Die als formenreichstes geometrisches Gebilde bezeichnete Mandelbrot-Menge zeigt,
dass fraktale Mengen und Unebenheiten, so unterschiedlich sie auch sein mögen,
einige charakteristische Eigenschaften aufweisen.
So erkennt man beim Hineinzoomen die feinen Verästelungen, die sich bei näherer
Betrachtung auch im Kleineren unendlich wiederholen. Die Kontur eines noch so
kleinen Ausschnitts im Apfelmännchen gleicht immer einer Küstenlinie. Mit der
fraktalen Dimension führte Mandelbrot einen Koeffizienten ein, mit dem erstmals die
Rauheit und Komplexität von Formen und sogar von nichtlinearen Ereignissen
quantitativ beschrieben werden konnte. Das Besondere am filigranen und
vielschichtigen Formengebilde des Apfelmännchens ist, dass die dahintersteckende
Gleichung für Mathematiker alles andere als komplex ist: f(z) = zn² + c.
Die Mandelbrot-Menge M ist die Menge aller komplexen Zahlen c, für die die rekursiv
definierte Folge komplexer Zahlen z0, z1, z2, ...
mit dem Bildungsgesetz zn+1 := zn² + c und der
Anfangsbedingung z0 := 0 beschränkt bleibt, das heißt, der Betrag der
Folgenglieder wächst nicht über alle Grenzen.
Märkte zwischen Risiko, Rendite und Ruin
Heute werden diese Erkenntnisse unter anderem in der Medizin, in den
Geowissenschaften, der Seismologie, der Bildverarbeitung und bei Spezialeffekten im
Kino eingesetzt. Doch auch die Finanzwirtschaft konnte aus diesen Erkenntnissen
Rückschlüsse ziehen: Hätten die Marktteilnehmer in den vergangenen Jahrzehnten
häufiger auf Benoît B. Mandelbrot gehört, dann wären sie wohl nicht so oft von den
turbulenten Ereignissen überrascht worden. Der Erfinder der fraktalen Geometrie
verglich die Akteure an den Finanzmärkten mit Seefahrern. Wenn diese ein Schiff
bauen, dann interessieren sie sich nicht dafür, wann genau der nächste Sturm kommt.
Sie bauen das Schiff so robust, dass es jeden denkbaren Sturm überlebt. Die
Finanzmarktakteure hingegen, so Mandelbrot, verhalten sich so, als gäbe es nur
Sonnentage. Sie kalkulieren ihre Risikotragfähigkeit basierend auf einem
Sicherheitsniveau von 99 oder 99,5 Prozent und blenden damit gerade die
Extremereignisse („fat tails“) aus, die im Sturm zum Sinken des Schiffes führen
werden. Mandelbrot wurde nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die
wahren Risiken von den in der Praxis verwendeten Modellen systematisch unterschätzt
werden. Bei der Finanzmarkttheorie handele es sich um eine „falsche Wissenschaft“.
An den Märkten entschieden die extremen Ereignisse über Gewinn und Verlust, nicht
die „normalen“ Kursschwankungen, so Mandelbrot. Er wies nach, dass die
Preisschwankungen der Finanzmärkte nicht durch eine Normalverteilung, sondern durch
eine Lévy-Verteilung beschrieben werden können, die in der Theorie ähnlich wie die
Mandelbrot-Menge eine unendliche Varianz aufweist.
Die Gauß’sche Normalverteilung, als die bis dahin weitgehend etablierte
Wahrscheinlichkeitsfunktion, ließ dagegen Statistiker, Klimaforscher und
Kapitalmarktakteure regelmäßig in dieselbe Falle tappen: Sie nehmen an, dass
Wahrscheinlichkeiten glockenförmig verteilt sind und Abweichungen von einer Norm
umso seltener auftreten, je größer sie sind. Und damit lagen sie regelmäßig schief,
wie Benoît B. Mandelbrot gut zwei Jahre vor der großen Finanzkrise auf der 1.
Risikomanagement-Konferenz von Union Investment im Jahr 2006 erklärte. „Der
Aktiencrash vom 19. Oktober 1987 hätte nie passieren dürfen“, so Mandelbrot. Bei
einer auf Normalverteilung basierenden Berechnung lag die Wahrscheinlichkeit für
einen Tagesverlust im Dow Jones in Höhe von knapp 30 Prozent bei 1 zu
1050 – eine Eins mit 50 Nullen.
In Bezug auf die Normalverteilungsannahme kritisierte Mandelbrot auch das
weitverbreitete Risikomaß Value at Risk: „Dass ich nicht lache. Der Value at Risk
soll das potenzielle Risiko anzeigen? [...] Wenn Sie sich anschauen, wie das Risiko
von verschiedenen Finanzprodukten gemessen wird, stellen Sie fest, dass fast alles
unter der Annahme der Normalverteilung beurteilt wird. Deshalb wird das Risiko
systematisch unterschätzt. Ich hoffe, dass meine Theorie der Fraktale eines Tages so
leicht anwendbar sein wird wie die Normalverteilung. Dann werden Sie sehen, dass das
Risiko in Wahrheit viel größer ist.“ Mandelbrot war überzeugt, dass die meisten
Risikotheoretiker bis dahin den falschen Weg beschritten hatten. „Mein ganzes Leben
war eine Risikostudie“, so Mandelbrot. Benoît B. Mandelbrot hielt im Frühjahr 2010
seinen letzten Vortrag, den er mit den Worten beendete: „Unergründliche Wunder
entspringen einfachen Regeln unentwegt wiederholt.“ Der Vater des Apfelmännchens und
der Fraktaltheorie starb am 14. Oktober 2010 im US-amerikanischen Cambridge.
Mandelbrot hat uns die Augen geöffnet, dass Fraktale den Kern des Lebens bilden und
hinter dem scheinbaren Chaos der Rauheit eine beeindruckende Ordnung existiert. Dank
seiner fraktalen Geometrie können wir nun das Buch der Natur ein Stück besser
verstehen.