Mehr wert als das Papier?

Zwischenstaatliche Verträge als Risiko

Eine der fundamentalen Aufgaben des Rechts ist es, das Risiko der Unvorhersehbarkeit menschlichen Handelns und seiner Folgen vorhersehbarer und damit beherrschbarer zu machen. Der Urtyp des Versuchs ist der Vertrag: Ich gebe dir etwas, damit du etwas bestimmtes tust. Falls du es nicht tust, gebe ich dir nichts. Außerdem musst du mir noch etwas geben, um mich für deine Nichtleistung zu entschädigen.

Bei einem zweiseitigen Vertrag dürfte der Inhalt der jeweiligen Verpflichtungen oft unstreitig sein. Wenn sich allerdings die Parteien nicht einigen können, wird der Vertrag folgenlos bleiben, oder sie müssen einen Dritten, etwa ein Gericht, mit der Klärung der Streitfrage beauftragen. Je mehr Parteien an einem Rechtsverhältnis beteiligt sind, desto häufiger wird dies der Fall sein. Die Streitwahrscheinlichkeit steigt auch, wenn das Rechtsverhältnis auf einem Gesetz beruht. Eine Ursache dafür ist häufig die Verwendung schwammiger Begriffe, die nach Auslegung geradezu schreien, etwa „Treu und Glauben“ wie im Paragraph 242 BGB.

Weitere Beispiele sind das „Wohl der Allgemeinheit“ (Art. 14 GG), das „allgemeine Wohl der Europäischen Union“ (Art. 285 Abs. 2 und 300 Abs. 4 AEUV) oder auch die „Preisstabilität“ und die „allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft“ (Art. 2, Satzung der EZB).

Ist die vertragliche Ausgestaltung und die Herstellung von Rechtssicherheit in einem System schon schwer, so wird es beim zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr noch anspruchsvoller. Dieser erfordert Verträge zwischen Firmen verschiedener Herkunftsländer. Um die Auslegung dieser Verträge zu erleichtern, wird oft die Anwendung einer bestimmten Rechtsordnung vereinbart, die einer der beteiligten Parteien. Das setzt ein Zugeständnis der anderen Parteien voraus. Alternativ kann eine Einigung auf eine dritte Rechtsordnung, die beiden Parteien fremd ist, der Schlüssel sein. Dieser Kompromiss fällt allerdings oft schwer.

Gemeinsame Texte können unterschiedlich ausgelegt werden

Der Ausweg aus diesem Dilemma sind (unverbindliche) Regeln für den internationalen Handel, wie sie vom International Institute for the Unification of Private Law (Unidroit) erstellt werden und die von den Vertragsparteien für anwendbar erklärt werden. Hier gibt es zwar gemeinsame Texte, aber nicht notwendigerweise gemeinsame Auslegungen. Vielmehr obliegt die Auslegung Schiedsgerichten oder den zuständigen nationalen Gerichten. Nach den Erfahrungen von Unidroit entwickelt sich die Rechtsprechung zu den vereinheitlichten Texten in den verschiedenen Staaten entsprechend der eigenen Rechtsordnung, so dass nach einigen Jahrzehnten eine neue Vereinheitlichung erforderlich sein wird.

Helfen kann die Einrichtung eines gemeinsamen Gerichts, wie etwa der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Straßburg oder der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg. Der letztere ist zuständig für die Auslegung der EU-(früher EG-)Verträge. Die Urteile dieser Gerichte sind in allen von ihnen hergestellten Fassungen ihrer Amtssprachen verbindlich.

Beim EGMR sind dies Englisch und Französisch. Beim EuGH gelten inzwischen 24 gleichberechtigte EU-Sprachen. Immerhin gibt es einen gemeinsamen Gerichtshof, der in allen Amtssprachen arbeiten kann und zuständig ist für die Auslegung der EU-Verträge. Damit sollte über alle Sprachbarrieren die einheitliche Auslegung gesichert werden.

Einheitliche Rechtsauslegung in Gefahr

Nun beansprucht das Bundesverfassungsgericht das Recht, nicht nur die EU-Verträge, sondern auch die Entscheidungen des EuGH am Maßstab des Grundgesetzes überprüfen zu können. Sollte das Gericht daran festhalten, dann könnten nach dem völkerrechtlichen Grundsatz der Gleichberechtigung der Mitgliedstaaten, der auch das Unionsrecht beherrscht, die obersten Ge­richte der anderen 27 Mitgliedstaaten, die mit der Rechtsprechung in Verfassungsfragen befasst sind, das gleiche Recht beanspruchen. Dann wäre die einheitliche Auslegung des Rechts der Europäischen Union und damit deren Rechtseinheit bedroht. Das Ziel der Minimierung der Risiken durch unterschiedliche Rechtsauslegung in der EU würde wieder ein Stück in die Ferne rücken.

Die Überprüfung von Rechtsakten der EU durch nationale Gerichte entspricht nicht dem Wesen der EU

Die Überprüfung von Rechtsakten der EU durch Gerichte eines Mitgliedstaates entspricht meines Erachtens nicht dem Wesen der EU und auch nicht dem Grundgesetz, das eine Eingliederung Deutschlands in ein vereintes Europa vorsieht. Rechtsakte der EU sollen dem allgemeinen Wohl der Union dienen und sind auf unionsweite Anwendung angelegt. Kein nationales Gericht kann das beurteilen. Es unterliegt Einflüssen, die vor allem in einem Mitgliedstaat wirksam sind. Es besteht aus Staatsangehörigen nur eines Mitgliedstaates. Es kennt eine, seine Rechtsordnung. Nichts befähigt es zu beurteilen, ob der Rechtsakt dem allgemeinen Wohl der Union dient. Seine Betrachtungsweise ist notwendigerweise einseitig. Es hat wohl die Fähigkeit, den Rechtsakt im nationalen Kontext zu prüfen. Aber diese Prüfung wird dem Rechtsakt der Union eben nicht gerecht.

Ein Beispiel ist das von dem CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler angestrengte Verfahren gegen die EZB. Dabei geht es um die berühmte Äußerung Mario Draghis: „Innerhalb ihres Mandats ist die Europäische Zentralbank bereit zu tun, was immer auch nötig ist, um den Euro zu retten.“ Die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht hinterließ bei manchen den Eindruck, als sei das darauf folgende Handeln der EZB rechtswidrig. Bei der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH ergab sich allerdings, dass diese Auffassung von keinem anderen Prozessteilnehmer geteilt wurde.

Doch selbst wenn über den Inhalt einer völkerrechtlichen Verpflichtung Klarheit herrschen sollte, ist ihre Erfüllung noch längst nicht gewährleistet. Zwar kann der Weltsicherheitsrat Maßnahmen beschließen, aber die Umsetzung liegt bei den Mitgliedstaaten der UN und folgt eher politischen als rechtlichen Überlegungen. Die ständigen Mitglieder sind sogar berechtigt, gegen Maßnahmen gegen ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrats und ihre Schützlinge ihr Veto einzulegen.

Fatales Signal für den Rechtsgehorsam

Organisationen, die sich als Rechtsgemeinschaft verstehen, wie die Europäische Union, können ihre eigenen Rechtsakte natürlich für nichtig erklären und damit jeder Wirkung berauben. Aber die Vollstreckung von Urteilen, denen Unionsrecht zugrunde liegt, gegen Mitgliedstaaten ist ausgeschlossen. So dass der Vollzug des Unionsrechts letztlich von der freiwilligen Bereitschaft ihrer Mitgliedstaaten dazu abhängt. Das ist ein Problem bei der Anwendung des Stabilitätspaktes, dessen Verabschiedung Deutschland besonders am Herzen lag. Deswegen war es für den Rechtsgehorsam der übrigen Mitgliedstaaten ein fatales Signal, dass ausgerechnet Deutschland sich nicht an den Pakt gebunden fühlte.

Das Recht kann das Risiko staatlichen Verhaltens nur begrenzt reduzieren

Die Durchsetzung des Rechts im zwischenstaatlichen Bereich ist eine der größten Schwachstellen des Rechts in diesem Kontext. Deshalb kann das Recht das Risiko staatlichen Verhaltens nur begrenzt reduzieren. Ungeachtet dessen ist die Rechtsordnung der Europäischen Union unter den internationalen Rechtsordnungen immer noch eine der wirksamsten. Nicht zuletzt weil unabhängig von der Zustimmung einzelner Mitgliedstaaten festgestellt werden kann, was Recht ist.

Zur Person

Prof. Dr. Carl Otto Lenz, Jahrgang 1930, Dr. jur., Honorarprofessor der Universität Saarbrücken, von 1959 bis 1966 Generalsekretär der Christlich-Demokratischen Fraktion des Europäischen Parlaments und von 1965 bis 1984 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1969 bis 1980 leitete er dessen Rechtsausschuss und gehörte dem Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat an. 1983 wurde er Vorsitzender der Europa-Kommission des Bundestages und von 1984 bis 1997 Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof.

Biografie

Website der Konrad-Adenauer-Stiftung. Hier finden Sie eine ausführliche Vita und Literaturliste von Professor Carl Otto Lenz.

Zur Website
Der europäische Bundesstaat

Auf dem Verfassungsblog finden Sie einen Beitrag von Professor Carl Otto Lenz zum Thema „Europäischer Bundesstaat“.

Zum Blog
Interview

Auf der Website des Deutschlandfunks finden Sie ein Interview mit Professor Lenz zum Thema Richtersprüche als europäische Wegbereiter.

Zur Website

Das könnte Sie auch interessieren