Wall Street’s Sexiest Models

Über Finanzmodelle und Spieltheorie

Seit der Subprime-Krise wird die Tauglichkeit der Finanzmodelle offen bezweifelt. Damals, im Herbst 2007, hatten sich viele Marktteilnehmer auf riskante Wetten mit faulen Krediten auf dem spekulativ aufgeblähten US-Immobilienmarkt eingelassen. Analysten hatten alles optimiert. Die Transparenz war niedrig; die Verständnishürde lag hoch. Das Ergebnis ist bekannt. Versagt bei Finanzkrisen der Markt oder die Theorie? Durchschauen Banker und Aufsicht noch die Komplexität dessen, was sie tun? Die Liste nicht trivialer Fragen zur Performance von Risikomanagement ist lang.

Zu stark vereinfacht

Durch wagemutige ökonomische Postulate beherrscht die Wall Street das mathematische Idiom. Das Rubrum Rigorous Mathematical härtet Finanzmodelle naturwissenschaftlich. Das Werkzeug der Financial Engineers (Quants) ist schlank, elegant und performant. Börsianer sind Random Walker, die mit Daten der Vergangenheit stoisch vor sich hin optimieren. Im Raum der Optionsgriechen ist Risikomanagement ein Messproblem. Das Geschehen gleicht dem Heimweg eines Betrunkenen: Ob er nach links oder rechts schwankt, entscheidet der Wurf einer Münze. Jeder Schritt ist schwer vorhersagbar. Ungewiss ist der Weg, der gewählt wird. Gewiss ist nur, dass er ein Ziel hat.

Der Mismatch zwischen Theorie und Praxis ernüchtert. Das komplexe Geschehen am Finanzmarkt lässt sich nicht einfach schematisch in zeitlos gültige Formeln pressen, die aus Fragen zu Glücksspielen folgen. Finanzmathematik im Status quo setzt stabile und durchschaubare Systeme voraus. Glücksspiele (Casino Games) sind fair; Wechselwirkungen gibt es nicht.

Dass Prognosen mit Lotterien oft bessere Ergebnisse liefern als abstrakte Finanzmodelle, lässt Böses ahnen

Dass große Händler den Markt hebelartig bewegen und kleine Akteure sich gegenseitig überlisten, passt ebenso wenig ins Bild wie Dominoeffekte, Herdenverhalten und Blasen durch Überreaktionen. Dass Prognosen mit Lotterien oft bessere Ergebnisse liefern als hoch abstrakte Finanzmodelle, lässt Böses ahnen.

Spieler mit Handicap

Ein „ordre naturel“ durch Casino Games führt dazu, dass Analysten oft überschätzen, was mit Modellen noch darstellbar ist. Im Regelfall sind sie immunisiert gegen Kritik an der zweifelhaften Gültigkeit finanzmathematischer Modelle, weil mathematische Resultate per se als absolut gültig gelten und deshalb nicht (oder nur selten) hinterfragt werden. Dass sich das Potenzial der Casino Games erschöpft, weil am Finanzmarkt historische Abhängigkeiten zerbrechen und Random Walker stets faire Spiele spielen müssen, stellt die Zeichen jedoch auf fundamentale Veränderungen. Dagegen stemmt sich, noch mit Erfolg, eine Gegenbewegung aus Wissenschaft und Research, die unerschütterlich bemüht ist, mithilfe noch feinerer stochastischer Modelle die Finanzwissenschaft noch mehr in die Nähe der Naturwissenschaft inklusive deren Objektivität zu rücken. Dass als Knightian Uncertainty bezeichnete Ungewissheiten am Finanzmarkt beobachtet werden, ist ein starkes Indiz dafür, dass sich die Finanzbranche zeitnah darum kümmern muss, wie ihr Gegenstand wirklich funktioniert.

Unsicher ist nicht gleich riskant!

Der Ökonom Frank Knight unterschied bereits in den 1920er Jahren zwischen Risiko (Erwartungswerte existieren) und Unsicherheit (Erwartungswerte existieren nicht). Daraus folgerte er, dass die Welt unsicher (nicht berechenbar) und nicht riskant (berechenbar) ist. Dass in der Subprime-Krise Banker gerade Risiko mit Unsicherheit verwechselten, führt uns zu der Gretchenfrage: Wie werden Finanzmodelle sensibler gegenüber Zuständen, die sich aus Strukturen formen, die sich neu und anders als zuvor produzieren?

In der Welt fairer Spiele ist diese Frage von grundsätzlicher Natur. Einfache Antworten gibt es nicht. Auch das Basel-Regime selbst ist ein sperriges Hindernis auf dem Weg zu Problemlösungen. Es zwingt Analysten dazu, sich mit dem Finanzmarkt wie Physiker mit der Welt zu befassen und nährt durch die Kennzahlenorientierung die Kontrollillusion. Dass dem Vorteil der Standardisierung als Nachteil die Verengung der Aktions-/Reaktionsmöglichkeiten gegenübersteht, macht Analysten im Endlosspiel des Finanzmarktes zur Veränderung der Spiele zu Spielern mit einem Handicap. Der Fallstrick ist ausgelegt, weil Finanzphysiker nicht methodisch über die Veränderung von Spielen nachdenken können.

Wider die „déformation professionelle“

Zukünftig ist zu beachten, dass stochastische Prozesse den Finanzmarkt nur dann noch in guter Näherung beschreiben, wenn sich Akteure wie Roulettespieler verhalten, die passiv gegen die Kugel im Kessel und nicht aktiv gegen andere spielen. In Market Games, wo heute niemand weiß, ob morgen Roulette, Poker oder Mischformen von Glücks- und Gesellschaftsspielen gespielt werden, ist, anders als in Casino Games, eine von Zweifeln befreiende stochastische Expertise zunächst nachrangig. Mehr noch: Je mehr Modelle verfeinert werden, umso absurder erscheinen sie, umso arbiträrer ihr Ergebnis. Dabei folgt zwangsläufig der nächste Fehler, wenn Akteure die mathematischen Gesetze zu ihrem Vorteil nutzen.

Wie kann die Realität weniger naiv als durch die Glücksspiel-Analogie abgebildet werden?

Es ist eine Binsenweisheit, dass Modelle, die Krisen mit verursachen, aus Krisen nicht herausführen können: Wie kann die Realität weniger naiv als durch die Glücksspiel-Analogie abgebildet werden? Anders gefragt: Wie kann das Primat der Mathematik zwar beibehalten, aber vom Ballast der Sterilität befreit werden, die die Analogie trägt? Die Beobachtung, dass am Markt nicht die Akteure Erfolg haben, die richtig rechnen, sondern sich relativ zu den anderen richtig einschätzen, zeigt, dass die Zufallseigenschaft der Kurse keine Voraussetzung für, sondern das Ergebnis von Handlungen ist. Genauso wenig ist Unsicherheit durch strategisches Verhalten eine Kuriosität der Märkte, sondern die Bedingung ihres Funktionierens. Dass sich die Finanztheorie, eingebettet im Ursachen offenlassenden stochastischen Paradigma, aus eigener Kraft nicht erneuern kann, erzwingt eine Erweiterung, die auch mit dem generell falschen Spielverständnis der Finanzbranche umgehen kann. Dies erfordert nicht etwa weniger, sondern mehr und vor allem komplexere Mathematik. Die Spieltheorie ist eine ausgereifte mathematische Methode, durch die Casino Games nur in dem Umfang überflüssig werden, wie in Market Games das risikobewehrte Verhalten der Spieler zu quantifizieren ist.

Bedingungen analysieren

Die Spieltheorie mathematisiert Prozesse der Selbstorganisation (Spiele!) durch als wesentlich erachtete Struktur- und Verhaltensmerkmale. Das berühmte Nash-Gleichgewicht klassifiziert Spielausgänge, wo jeder Spieler seine Strategiewahl akzeptiert. Der empirische Ast der Spieltheorie überprüft Spielmodelle experimentell. Da sich das Finanzsystem durch die Interaktion seiner Teile erklärt und Marktentscheidungen komplexe Spiele sind, erfüllt die Spieltheorie aus moderner, systemischer Sicht die Minimalbedingungen, um die Bewertungsprobleme, die der Finanzmarkt stellt, in guter Näherung zu lösen.

Im akademischen Wettbewerb unterliegt die Wirklichkeit noch der Scheinpräzision von Formeln

Dass die Spieltheorie die Finanztheorie konzeptionell und methodisch um die Problemfelder erweitert, auf denen Modelle künftig ihre Geltung behaupten müssen, ist das eine. Dass Finanz(Spiel)Modelle, die realistisch sind, weil sie sich ähnlich verhalten wie das Finanzsystem, nicht die Kopie eines Originals aus der Physik sein können, ist das andere. Auch wenn die Zweckmäßigkeit der Spieltheorie durch den Einbezug von Verhaltensrisiken außer Zweifel steht, ist nüchtern zu konstatieren, dass im akademischen Wettbewerb die Wirklichkeit noch der Scheinpräzision von Formeln unterliegt, die in der Finanzwelt kaum jemand mehr versteht. Zu oft scheitert die Mathematisierung finanzökonomischer Prozesse durch Spiele noch am Beharrungsvermögen der Curricula: Das massiv im stochastischen Paradigma gebundene Humankapital ist das Trägheitsgesetz der Lehre, was die notwendige Reform der Inhalte verhindert. Hier ist tröstlich, dass die Universität Bonn durch einen Schwerpunkt in Spieltheorie eine Insel der Veränderung ist.

Es wird anspruchsvoller

Der Finanzmarkt ist ein komplexes System mit all seinen Imponderabilien. Spieltheoretische Aspekte sind allgegenwärtig. Finanz(Spiel)Modelle schätzen die Breite möglicher Entwicklungen mit ihren Gefahren bestmöglich ab. Dies kommt dem wirklichen Ziel von Risikomanagement nahe: Eher grob richtig als exakt falsch zu liegen, ist „sexy“; mit der richtigen Strategie das falsche Spiel spielen, ist mathematisches Glasperlenspiel.

Zur Person

Dr. Volker Bieta, Jahrgang 1955, promovierte in Spieltheorie am Institut für Mathematische Wirtschaftsforschung der Universität Bielefeld (Direktor: Reinhard Selten (Nobelpreis 1994)). Er ist Unternehmensberater in Berlin und Lehrbeauftragter für Spieltheorie und Finanzmathematik an der Technischen Universität Dresden. Sechs Bücher zur Spieltheorie ergänzen über 80 wissenschaftliche Publikationen.

Hochschule

Website von Dr. Volker Bieta am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre der Technischen Universität Dresden. Hier finden Sie Informationen zu seinen Forschungsschwerpunkten und ausgewählte Publikationen.

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Verlag

Auf der Website des Rheinwerk Verlags finden Sie Informationen über die Autoren von „Risikomanagement und Spieltheorie“ – unter anderem eine Kurzvita von Dr. Volker Bieta.

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