Fürchten wir uns vor dem Falschen?

Statistik, Psychologie und das Risikoparadox

Durch neue Technologien, ausgeklügelte mathematische Modelle und immer umfassendere statistische Erhebungen gab und gibt es im Risikomanagement gewaltige Erkenntnisfortschritte. Die richtigen Schlüsse daraus können jedoch letztlich nur Menschen ziehen. Dabei zeigt sich aber: Unsere Urteile über Risiken sind oft unangemessen und wenig rational. Wir überschätzen viele eher marginale Risiken und unterschätzen gravierende Bedrohungen. Warum ist das so und was können wir gegen dieses Risikoparadox tun?

Der Mensch hat über ­Jahrtausende gelernt, alles ihn Verunsichernde als potenzielle Gefahr einzuschätzen

Europa vor 6.000 Jahren: Drei Vertreter der Gattung Homo sapiens sitzen vor ihrer Höhle und unterhalten sich. „Wir haben absolut sauberes Wasser“, sagt der erste. „Ja“, bestätigt der zweite, „wir ernähren uns auch rein biologisch und haben keinen Job-Stress.“ „Stimmt“, grübelt der dritte, „klingt paradiesisch, aber wir werden höchstens 30 Jahre alt.“ In Deutschland liegt die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen heute dagegen bei 86 und für Männer bei 82 Jahren. Zu verdanken ist diese äußerst positive Entwicklung vor allem vier Faktoren: einer angemessenen und ausgewogenen Ernährung, dem medizinischen und technischen Fortschritt, relativ guter sozialer Absicherung und hohen Hygienestandards. Die Lebens- und Gesundheitsrisiken haben allein dadurch über Jahrzehnte stetig abgenommen und tun es heute noch.

Ist das Leben nicht riskanter geworden?

Nichtsdestotrotz zeigen aktuelle Umfragen, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Überzeugung ist, dass unser Leben immer gefährlicher und risikoreicher wird. Ist es nicht so, dass wir immer häufiger in den Medien neue Lebensmittelskandale oder „Umweltsauereien“ vorgeführt bekommen, dass immer mehr Menschen durch die moderne Technik bedroht und durch Umweltbelastungen in ihrer Gesundheit gefährdet werden? Die Antwort auf diese Frage ist bestechend einfach. Sie lautet „nein“.

Ein Beispiel: Von 100.000 Deutschen sterben aktuellen Statistiken zufolge 26.000 an Krebs. Krebserkrankungen sind damit hierzulande die Todesursache Nummer eins für Menschen bis zum 70. Lebensjahr. Bei 11.000 von den 26.000 Krebstoten waren Auslöser der Erkrankung sehr wahrscheinlich das Rauchen oder eine falsche Ernährung, Stichwort Übergewicht. Aber in nur 26 Fällen (mit einem Konfidenzintervall von rund 0–120) kann der Krebs auf Pestizidrückstände oder chemische Konservierungsmittel in Lebensmitteln zurückgeführt werden, so die allgemeine medizinische Einschätzung. Einige Umweltorganisationen halten diese Angaben für zu niedrig und sprechen von bis zu 240 Fällen pro 100.000 Einwohner. Auch dies ist eine immer noch verschwindend geringe Zahl. Dennoch nennen die Deutschen in Umfragen Pestizidrückstände als eines der aktuell größten Gesundheitsrisiken. Die Schweizer haben dies sogar zum Lebensrisiko Nummer eins erkoren – noch vor Autounfällen oder Rauchen. Unausgewogene Ernährung, Bewegungsmangel, Alkoholkonsum und Rauchen – also die vier Ursachen, auf die sich in Deutschland weitaus mehr als die Hälfte aller frühzeitigen Todesfälle zurückführen lassen – spielen in der allgemeinen Risikowahrnehmung dagegen kaum eine Rolle.

Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Warum fürchten wir uns vor Gefahren und Risiken, die nach bester wissenschaftlicher Erkenntnis wenig Schaden anrichten, und warum verschließen wir unsere Augen gleichzeitig vor Risiken oder ignorieren sie in unserem Verhalten weitgehend, die uns erheblich bedrohen? Die Flut der Medienberichte über die Gefahren gentechnisch veränderter Lebensmittel, um beim Beispiel zu bleiben, ist eine der Ursachen dafür. Die Mehrheit der Deutschen glaubt angesichts der enormen Präsenz von Raubüberfällen und Gewaltverbrechen in den Medien auch an eine stetige Zunahme der Kriminalität. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Überspitzt formuliert, können diese Fehleinschätzungen tragische Folgen haben – etwa die, dass vor allem ältere Menschen aus Furcht vor einem Überfall nur noch selten die Wohnung verlassen und dadurch ihr Risiko, an Bewegungsmangel zu erkranken, deutlich erhöhen.

Eine weitere Erklärung für diese falsche Risikowahrnehmung ist die Tatsache, dass uns die Medien zu ständigen Augenzeugen dessen machen, was schiefläuft. Und der Mensch hat in vielen Jahrtausenden der Evolution gelernt, alles ihn Verunsichernde als potenzielle Gefahr einzuschätzen, sofern es ihm zeitlich oder räumlich nah ist. Wird dieses Naheliegende dann auch noch von Experten als bedrohlich eingestuft, steht unser Urteil schnell fest. Wer etwa regelmäßig unter Kopfschmerzen leidet und in der Nähe eines Mobilfunkmasts wohnt, hat in aller Regel schon vor dem ersten Arztbesuch die Ursache ausgemacht.

Unmittelbares Kausalitätsdenken war hilfreich, um heranpirschende Säbelzahntiger als Risiko zu erkennen

Dieses unmittelbare Kausalitätsdenken war in der Vergangenheit äußerst hilfreich, um beispielsweise einen heranpirschenden Säbelzahntiger als Risiko zu erkennen und sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Beim Erkennen der heute vorherrschenden komplexen Risiken ist es jedoch eher hinderlich. Das Naheliegende ist in unserer aktuellen Risikowirklichkeit oft das Falsche. Denn Gefahren wie unausgewogene Ernährung, Bewegungsmangel, Rauchen und Alkoholkonsum wirken sich weder unmittelbar aus noch nehmen sie linear zu. So finden sich unzählige Beispiele von Kettenrauchern, die hohe Lebensalter erreicht haben und nicht an Krebs erkrankten. Als Menschen registrieren wir dies und lassen uns von unserem Kausalitätsdenken auf einen falschen Pfad der Risikowahrnehmung führen. Dies wiederum führt dazu, dass wir die wahren Risiken in unserem täglichen Leben ignorieren und häufig fahrlässig handeln.

Noch schwieriger wird es bei weltweit vernetzten, nicht linearen Risiken wie sie heute zum Beispiel vom Klimawandel ausgehen oder vom globalen Finanzsystem und der damit eng zusammenhängenden wachsenden Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Die OECD hat dafür unlängst die neue Kategorie der „systemischen Risiken“ eingeführt. Die sogenannten systemischen, schleichenden Risiken werden eher unterschätzt beziehungsweise erhalten nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie plötzlich eintretende, katastrophale Auswirkungen. Dabei sind vor allem drei globale Gefahrenherde zu beachten: die zunehmende Eingriffstiefe menschlicher Eingriffe in die Natur (Klimawandel, Schadstoffausstoß, Flächen- und Wassernutzung); mangelnde und wenig effektive Steuerung von zentralen Prozessen in Wirtschaft und Politik (Kapitalmärkte, Korruption, Kapazitätsdefizite); negative Begleiterscheinungen der Globalisierung und Modernisierung (ungleiche Lebensbedingungen, mangelnde Sicherheit, Identitätsverluste). Viele dieser systemischen Risiken sind den Menschen gar nicht bewusst. Obwohl wir sie meistens kennen, schätzen wir sie jedoch nicht als handlungsrelevant für uns ein. Das kann böse Folgen haben – nicht nur auf dem Finanzmarkt.

Risikomanagement muss sich an einer Balance zwischen Effizienz und Resilienz orientieren

Gibt es beispielsweise einen Zusammenhang zwischen der Finanzkrise 2008 und dem Ausbruch der Ebola-Epidemie? Wir können ihn jedenfalls nicht ausschließen, denn mangels attraktiver Anlagealternativen nahm in der Krise die Spekulation mit Nahrungsmitteln rasant zu. Steigende Weltmarktpreise für Reis und Getreide waren die Folge. Daraufhin mussten sich gerade die ärmsten Länder weiter verschulden, um ihre Bevölkerungen zu ernähren. Diese finanzielle Notlage zwang viele Staaten Westafrikas dazu, vorerst auf nahezu alle Investitionen in Infrastrukturprojekte und das Gesundheitswesen zu verzichten. Mit verheerenden Folgen, wie wir heute wissen. Dieses Beispiel macht deutlich: Systemische Risiken sind für einen in unmittelbaren Kausalketten denkenden Laien nicht mehr durchdringbar. Selbst Experten tun sich bislang schwer, systemische Risiken auch nur annähernd präzise zu modellieren und daraus verlässliche Handlungsempfehlungen etwa für das Risikomanagement abzuleiten.

Folgerungen für das Risikomanagement

Was bedeutet dies für unseren Umgang mit Risiken? Risikomanagement muss sich an einer Balance zwischen Effizienz und Resilienz orientieren. Zudem müssen die Lösungen für die betroffenen Menschen fair sein. Das bedeutet: Wir müssen die Unsicherheiten bei der Risikoerfassung mehr beachten und Lösungen anbieten, die auch noch dann greifen, wenn unvorhergesehene Ereignisse eintreten (Resilienz). Wir brauchen ein Risikomanagement, das die Risiken nachweislich begrenzt, mit den knappen Ressourcen haushälterisch umgeht, unwahrscheinliche, aber mögliche Rückschläge verkraften hilft und eine gerechte Verteilung von Nutzen und Risiko ermöglicht.

Zur Person

Ortwin Renn, Jahrgang 1951, Ordinarius für Umwelt- und Techniksoziologie an der Universität Stuttgart, Dekan der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät und Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung an der Universität Stuttgart (ZIRIUS). Gründer des Forschungsinstituts DIALOGIK, eine gemeinnützige GmbH zur Erforschung und Erprobung innovativer Kommunikations- und Partizipationsstrategien in Planungs- und Konfliktlösungsfragen.
 
Fotorecht: Wolfram Scheible

Hochschule

Professor Ortwin Renns Website des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. Hier finden Sie Informationen zu Professor Renns Forschungs- und Lehrtätigkeit sowie zum Seminar- und Vorlesungsprogramm des Instituts für Sozialwissenschaften.

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Auf der eigenen Website von Professor Ortwin Renn erhalten Sie unter anderem ausführliche Informationen zu seiner Vita, ein Publikationsverzeichnis sowie eine Reihe von Downloads seiner Veröffentlichungen.

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Das Risikoparadox

Professor Ortwin Renn stellt sein Buch „Das Risikoparadox“ vor. Aufgenommen am 14. Mai 2014 im Hospitalhof in Stuttgart.

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